Montag, 16. Juni 2014

Präp-Kurs: Leichen aufschnibbeln?

"Im Medizinstudium musst du im Leichenkeller an toten Menschen rumschnibbeln! Meinst du, du kommst damit zurecht?!"
Das waren die Bedenken, die meine Mutter bezüglich des bald anstehenden ersten Semesters äußert. Und zugegebenermaßen, in dieser Umschreibung hört sich das auch ziemlich spooky an.
Tatsächlich ist oft die erste Frage, wenn Ihr euch mit Studenten anderer Fächer unterhaltet: "Wie ist denn dieser Präp-Kurs? Muss man da wirklich Leichen aufschneiden?!"
Dann könnt Ihr euch entweder ne Frankenstein-Story ausdenken, um die Sensationslust zu befriedigen, oder Ihr antwortet wahrheitsgemäß: "Das einzige, was an dem Kurs spooky ist, sind die monatlichen Testate, deren Ergebnisse hauptsächlich von der Laune der Prüfer abhängen."

Denn so stellt sich meine Mutter (und wahrscheinlich auch viele andere) den Präparier-Kurs vor:
Ein gruseliger alter Professor mit wirrem Haar, schiefen Zähnen und Buckel, gefolgt von einem Grüppchen verängstigter Studenten steigt eine alte Kellertreppe herab und bleibt vor einer großen Eisentür stehen. Der Geruch von Verwesung hängt in der Luft. Der Alte klappert mit seinem Schlüsselbund, um endlich den richtigen Schlüssel zu finden, und schiebt die große Tür mühsam auf. In der Ecke liegt auf einer alten Trage die Leiche einer in der letzten Nacht ermordeten jungen Frau. Daneben ein Tisch mit verrosteten, seltsam geformten Instrumenten, von denen jeder Student eines in die Hand gedrückt bekommt. Der Professor selbst macht bei schummrigem Licht den ersten Schnitt. Blut quillt aus dem weißen Fleisch...

:D
Ok, wer meinen Phantasieausbruch bis hierhin überstanden hat, wird jetzt erfahren, wie der Präp-Kurs wirklich abläuft!

Im ersten Semester gibt es einen Kurs, der sich "Anatomische Propädeutik" nennt. Das ist zumindest in Bonn so, ich denke aber, dass es diesen Kurs überall gibt. Das wäre zumindest sinnvoll, denn hier lernt man von einem Studenten aus einem fortgeschritteneren Semester anatomische Grundlagen. An einem Kurstag, der vorher vereinbart wird, dürfen die Propädeutik-Studenten sich die Leichen aus dem Präp-Kurs-Semester anschauen, bevor sie im nächsten Jahr selber dran sind.
In der Uni Bonn nennt sich das Gebäude, in dem sowohl die Hörsäle als auch der Präp-Raum sind, die "Anatomie". Dort findet fast die gesamte Vorklinik statt.

Ihr seht, es ist ein neues, helles Gebäude mit großen Fenstern. Und der Präp-Kurs findet auch nicht in einem kleinen Kellerraum statt, sondern fast in der gesamten oberen Etage. Es sieht alles sehr hell, sauber und neu aus. Man läuft erst durch einen Waschraum, dann kommt man in den Präpsaal, in dem unter großen Lampen solche Tische (ähnlich wie im OP) stehen.
Liegen die Leichen schon auf den Tischen, dann sind sie mit einem weißen Tuch zugedeckt, wenn keiner daran arbeitet.
Und stinken tut´s auch nicht, außer vielleicht nach Formaldehyd, denn darin sind die Leichen schon eine ganze Weile eingelegt. Der Geruch geht allerdings auch irgendwann auf die Nerven, weil man das Gefühl hat, das ganze Semester lang selbst danach zu riechen :)
Zu den Leichen: Eine junge ermordete Frau werdet ihr dort auch nicht finden, denn es gibt bestimmte Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen, wenn man Leiche in der Anatomie werden möchte. Man muss z.B. ein Mindestalter erfüllen. (Ich glaube, 70 Jahre oder so?) 
Wer interesse an ungeklärten Todesfällen hat, dem kann ich eine Famulatur in der Rechtsmedizin empfehlen! Soll wirklich sehr interessant sein, haben bei uns in Bonn einige gemacht. 
Zurück zum Präp-Kurs: Die Leichen sind also alt. Männlein und Weiblein gemischt. Man wird in Gruppen von ca 10 Leuten einer Leiche zugeteilt. Jede Gruppe hat einen Vorpräpper, das ist ein Student aus einem höheren Semester. 
Bevor es richtig losgeht, braucht Ihr natürlich Euer eigenes Präpbesteck und einen Kittel. Das gibt es beides in einer medizinischen Fachhandlung. Den gibts eigentlich in jeder Stadt, in der es eine medizinische Fakultät gibt und da könnt Ihr euch auch später euer Stethoskop usw. kaufen (In Bonn heißt der Laden Fassender"). Informiert euch vorher, welche Art von Präp-Besteck die Prüfer am liebsten haben, es gibt nämlich welches mit Holzgriff oder komplett aus Stahl, und das Ganze ist schön sortiert in einem Holzkästchen.
Was machen wir jetzt mit der Leiche? Ziel des Kurses ist es, möglichst alle "anatomischen Strukturen" und deren Verlauf darzustellen. Man schnippelt also nicht ziellos in der Leiche rum, denn das wirkt sich im nächsten Testat negativ auf die Ergebnisse der ganzen Gruppe aus, wenn eine Struktur dargestellt werden soll, die nicht mehr da ist. Es gibt ein Skript, in dem vorgegeben ist, was an dem jeweiligen Präp-Tag dargestellt werden soll.
Die Leichen sind insgesamt durch den "Einlege-Vorgang" ziemlich gelblich, und Blut fließt auch nicht mehr. Es ist also eigentlich eine ziemlich saubere, ästhetische Sache und zwischendurch kann man beinahe vergessen, dass es ein menschliches Bein ist, in dem man gerade mit seiner Nase fast drinsteckt!
Natürlich ist es seltsam, wenn das erste Mal das Tuch weggezogen wird. Für manche ist es das erste Mal, dass sie eine Leiche sehen. Mir war auch etwas mulmig, und manche mussten sogar kurz raus oder sind umgekippt. Auch der erste Schnitt ist noch komisch. Aber bald betrachtet man "seine Leiche" als "Kunstwerk": Man versucht, selbst die kleinsten Nervenenden klar freizupräparieren und freut sich, wenn man den ganzen Verlauf der Arteria femoralis dargestellt hat. Dabei teilen sich die Studenten relativ selbstständig an verschiedene Stellen der Leichen ein und arbeiten auch auf eigene Verantwortung. Der Vorpräpper ist aber immer dabei, und wenn er nett ist, hilft er richtig mit, fragt die Studenten ab und erklärt alles nochmal. 
Bis zum ersten Testat sollten nämlich die vorgegebenen Strukturen freigelegt sein. Notfalls muss man auch mal ne Sonderschicht einlegen.
Die Testate waren immer ziemlich nervenaufreibend. Man wird jedes Mal von einem anderen Prüfer befragt. Und dann gibt es je nach Prüfer verschiedene Möglichkeiten des Prüfens. Wir haben folgendes erlebt.
Möglichkeit 1:
Die Gruppe wartet im Waschraum. Einer nach dem anderen wird vom Prüfer an die Leiche gerufen, während der Rest der Gruppe sich am kleinen Fenster vom Waschraum zum Präpsaal die Nasen plattdrückt, um Mimik von Prüfling und Prüfer beobachten zu können. Je nachdem sinkt oder steigt dann der Adrenalinspiegel, bis man dann auch "endlich" dran ist.
Möglichkeit 2:
Die gesamte Gruppe steht um die Leiche. Einer nach dem anderen bekommt verschiedene Fragen vom Prüfer gestellt oder wird aufgefordert, Strukturen und deren Verlauf an der Leiche darzustellen.
Je nachdem kann es auch passieren, dass man ordentlich vor der gesamten Gruppe bloßgestellt wird.
Möglichkeit 3:
Der Prüfer schaut zu Hause in sein dickstes Spezial-Anatomie-Buch, sucht nach dem Kleinstgedrucktesten und denkt sich dazu eine Frage aus. Dann freut er sich auf den nächsten Tag, stellt diese Frage dem ersten Studenten in der Runde, nach sicherem Nicht-Beantworten der Frage gibt er diese weiter, bis am Ende alle durchgefallen sind. Alle gehen nach Hause. Der Prüfer freut sich. Die Studenten müssen zum Nachtestat.

Ich möchte Euch keine Angst machen. Meistens sind die Testate nett gewesen! Aber es gibt eben auch andere Fälle. Diese verdeutlichen, dass es kein bisschen an Euch oder daran, wie ihr gelernt habt, liegt, wenn Ihr mal ins Nachtestat müsst. Das passiert fast jedem einmal. Denn über das Semester verteilt sind es glaube ich 6 Testate! 
Es ist in der Vorklinik leider so, dass ein wenig "ausgesiebt" werden muss. Denn es gibt weniger Klinikplätze als Vorklinikplätze, und es wird darauf spekuliert, dass ein gewisser Anteil in der Vorklinik oder im Physikum durchfällt und dann "hängenbliebt". Ist aber auch nicht schlimm! Denn fast alle landen am Ende sicher in der Klinik und -schwups- im Hammerexamen und dann werden euch keine Steine mehr in den Weg gelegt. Man muss sich nur durchbeißen, nicht aufgeben und schön zu Hause im Prometheus blättern! 
Nach dem Präpkurs werden die Leichen natürlich noch beerdigt. Meistens findet eine gemeinsame Feier mit Beerdigung aller Leichen statt. Es kommen natürlich auch Angehörige und da man ein halbes Jahr lang fast jeden Tag mit der Leiche verbracht hat und Höhen und Tiefen erlebt hat, kommen die Studenten auch zur Beerdigung und spendieren auch einen schönen Kranz.
Ich finde, das ist ein würdiges "Ende" für den Kurs und vor allem für die Personen, die sich bereit gestellt haben, uns ihr Inneres erforschen zu lassen. Bei allem Ehrgeiz darf man nicht vergessen, dass es kein  "Kunstwerk" ist, an dem man bastelt, sondern ein Mensch.

Ich hoffe, dieser Post hat ein wenig Licht in das Dunkel des Präp-Kurses gebracht. Vielleicht wusstet ihr ja auch alles schon. Bitte kommentiert gerne, damit ich weiß, woran Ihr interessiert seid. :) 
Danke, Eure Chrissy


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